Protagonist

Neulich im Gespräch mit sehr jungen Journalisten, die im schönsten Sinn vor Ehrgeiz brannten, tauchte mit der Sehnsucht nach der einen großen Geschichte, nach zündendem Storytelling gleich mehrmals der Begriff des Protagonisten auf, jener leicht fasslichen, etwas überkonturierten, so greif- wie spürbar zu machenden Gestalt, die eine Reportage/Erzählung in Gang setzt und bis ins Ziel trägt, die Stimmungen genauso vermittelt wie Fragen des Lebens oder der Politik, die alle zur Identifikation einladen und mitreißen wird – als hart schuftender Arbeiter, alles gebender Sportler, abgehängter Abgehängter, kämpferischer Aktionist, traumatisiertes Opfer, normaler Jedermann -, eine Gestalt, die mir völlig fremd ist, weil ich sie fast immer für das Produkt sentimentaler Phantasie oder glatte Lüge halte, eine Figur, mit der ich nicht mehr rechnete und die doch wieder um die Ecke kam, als wäre sie dringend geboten, State of the art, dramatisch effizient wie der Zeuge im amerikanischen Gerichtsfilm. Und jetzt, im Fall des Reporters Claas Relotius, begegnet mir diese Figur in bald jedem Artikel zur Affäre wieder, als Motor der Lüge in zig gefälschten Artikeln, als Fake oder bloß getriggert, beinahe dieselbe Figur, plötzlich schreiend unauthentisch, ja gefährlich, Symptom einer Krankheit, ein Abgrund an Ambivalenz.