klasse

Habe Der Platz von Annie Ernaux wiedergelesen, in der Neuübersetzung von Sonja Finck. Starker Text, tolle Verknappung, wieder brauchte ich eine Zeit um über die Kühle hinwegzukommen, das irgendwie fast eitel Unwirsche. Gestern dann die „Super-8-Tagebücher“ ihres Sohnes David Ernaux-Briot, ein Film, von dem man sich auch „erholen muss“ (Nils Minkmar in der SZ – auch ist von mir). Starke Bilder, tolle Reduziertheit. Der Kommentar der Autorin – wach erstauntes Selbstgespräch, der eigenen Prosa durchaus verwandt – klang sehr viel wärmer – was an der Stimme von Eva Mattes liegen mag, die Ernaux synchronisiert -, wärmer jedoch, um mich gleich wieder abzukühlen. Während die Texte Ernauds auch nur den Hauch von Bedeutung meiden, blitzt hier viel Bedeutsames auf – „Ich begriff, warum man die Sonne einmal als Gottheit verehrt hat“ -, unter Bildern so privat, dass sie im guten Sinn trivial sein müssen, in einem Setting, so bürgerlich, dass sich ihr Lebensthema, die Klasse, schnell verflüchtigt. Über den Moment, da die Familie zerfällt, sagt sie, sie habe damals in ihr Tagebuch geschrieben, „er kann mich in seinem Leben nicht gebrauchen“. Der Film besteht fast nur aus Bildern, die einst ihr Mann gedreht hat (seine Kamera, sein Handwerk, seine Macht), zu denen sie sich, im Off, in jene Autorin verwandelt, die wir bewundern (so sehr, dass ich ihren Satz erst umgekehrt gehört habe – ich konnte ihn in meinem Leben nicht gebrauchen). Natürlich, Leben ist etwas anderes als Schreiben (oder Sprechen), Lesen etwas anderes als Schauen, doch der Zauber des Authentischen überdauert seine Feier kaum

fremdgerecht

Die Intellektuellen und der Krieg – was am offenen Brief der friedlichen 28 in der EMMA so sehr irritiert, ist der Move, mit dem hier aus der Sorge um uns alle Kälte wird. Der Krieg verstört uns, ja, und nichts ist mehr gewiss als unsere Ohnmacht. Während andere einen schrägen Kampfgeist entwickeln, demonstrieren sie unverbrüchliche Liebe zum Frieden, als wären sie damit allein. Was trennt die 28 vom Bäcker, von der Anwältin, vom Taxler und Profi welcher Profession auch immer? Sie sind geübt ihre Wunden zu zeigen. Woher die Chuzpe „wir“ zu sagen und andere sich selbst zu überlassen? Sie pochen auf unser aller Angst. Sie verteilen Zuständigkeiten. Sie wägen das Maß legitimen Widerstands. Sie ziehen Grenzen und verlangen ein Ende – von der Ukraine. Der Selbstgerechte setzt nicht nur sich selbst ins Unrecht.

mauern

Gestern, im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt eröffnet die Sitzung des Parlaments, in der sich der Präsident der Ukraine aus dem Bunker melden wird. Sie spricht von sich im Widerstand, 1989 auf dem Alexanderplatz, 2014, als sie den Majdan besuchte, zu eitel um verbindlich zu sein. Vielleicht war sie nervös ob des historischen Moments – in ihrer Empathie klang sie seltsam unempathisch. Manch Mitgefühl berührt das Leid nicht mal, bleibt sentimental. Wolodymyr Selenskyj beschrieb dann die Mauer zwischen sich und uns – und da war sie, tatsächlich, dramatisch unsichtbar, dank einer Regierung, die sich radikalerer Solidarität verweigert, und eines Plenums, das gleich zur Tagesordnung überging. Aus deutschen Abgründen auf den moralischen Gipfel in wenigen Minuten. Bescheidenheit war nie unsere Zier.